Eiger Ultra Trail E35 – Ich dachte, die Schweiz wäre flach …

von Sabine

 
"Obelix, wie ist Helvetien denn so als Land?"
"Flach!"
(Asterix bei den Schweizern)


Es ist wie so oft: Man trainiert ein halbes Jahr, bereitet sich vor, tüftelt – und dann geht alles ganz schnell. Nun liegt der Wettkampf schon über eine Woche hinter uns – aber die Eindrücke sind noch ganz frisch.


Mit Sicherheit unvergesslich: 20-30% Steigung auf der Eigermoräne


Rückblende: Im Oktober 2016 hatten wir uns zusammengesetzt und versucht einen Wettkampf zu finden, der für uns alle eine Herausforderung darstellen würde. Dass dies bedeuten würde, dass Erik und wir drei Damen (Andrea, Katrin und ich) auf unterschiedliche Strecken gehen würden, war klar. Ziemlich schnell stand auch der Wettkampf fest: Der Eiger Ultra Trail. Es war klar: Der E51 mit seinen 3000 Höhenmetern wäre vor allem für Andrea und Katrin eine Nummer zu hoch. Vielleicht auch für mich. Also E35 – denn der stellte hinsichtlich der Höhenmeter nochmal eine ordentliche Herausforderung und Steigerung gegenüber dem Karwendelmarsch (35km) mit seinen 1600 Höhenmetern dar. Katrin und Andrea plädierten für den E16, aber sie wurden überstimmt. Das geht bei uns ganz basisdemokratisch ... Dann hatten wir alle den Startplatz – und fragten uns, ob das wohl gutgehen würde.

Angereist sind Katrin, Erik und ich schon donnerstags, freitags kam Andrea mit dem Zug nach Grindelwald nach. Wir wollten einfach früh da sein, Wettkampfluft schnuppern, keinen Stress bei der Startnummernausgabe haben. Die ist ja auch mit einer Rucksackkontrolle verbunden – nur wer die gesamte Pflichtausrüstung dabei hat, bekommt die Startnummer. Das führt schon mal zu witzigen Szenen – so werden wir um ein paar Handschuhe „angebettelt“. Wir dagegen sind gut ausgerüstet – alles ist dabei und schön in Tüten geordnet. Daumen hoch für uns – wir haben die Startnummer. Was aber die Nervosität eher noch erhöht...

Nach der Startnummernausgabe:
 Mischung aus Angst und Vorfreude

Wenn man durch Grindelwald geht, dann hat man den Eindruck, dass es in Grindelwald nur zwei Spezies Mensch gibt: Die aus dem Nahen Osten und die aus dem Fernen Osten. Spätestens ab Donnerstag gesellte sich dann noch eine weitere Spezies dazu: Menschen mit bunten Schuhen, kleinen bunten Rucksäcken, Kompressionsstrümpfen, Betonwaden und sonnengegerbtem Gesicht: Die Trailrunner.

Beim Abendessen am Donnerstag sehen wir dann, wie klein die Trailrunning-Welt doch ist. Während wir auf unsere Pizza warten, stupst mich Katrin an und sagt: „Sind das da drüben nicht die vier Damen, die beim letzten Karwendelmarsch mit dabei waren?“ Welche Damen? Ich muss mich mental erst mal kurz aus dem Renn-Vorbereitungs in den Erinnerungsmodus bringen und langsam dämmert es mir: Ja, da sitzen 4 ältere Damen am Tisch, alle offensichtlich Trailläuferinnen. Und ja, vor 2 Jahren hatten wir morgens beim Frühstück im Hotel Ramona in Scharnitz zwar noch kaum die Augen auf, aber uns waren diese vier Damen aufgefallen und wir hatten damals gesagt: So sportlich wollen wir in diesem Alter auch sein. Aber sind sie das wirklich? Ich gehe zu ihnen an den Tisch – und tatsächlich: Es sind die Damen vom LT Herbrechtingen, genau  dieselben, die uns vor 2 Jahren beim Frühstück aufgefallen waren.  Jetzt läuft  eine von ihnen den E101 und zwei den E51. Wow!!

Das Carboloading am Freitag führen wir „landestypisch“ durch: Es geht nichts über ein Schweizer Rösti! Mit Spiegelei und Salat ... Und mit einem Bier, damit ich besser einschlafen kann.

So geht Carboloading in der Schweiz: Rösti


Ich kann dann zwar gut einschlafen, aber um 4 Uhr ist die Nacht für mich vorbei – denn ich will Erik bei seinem Start zum E101 filmen. Glücklicherweise laufen die 101er direkt an unserem Hotel vorbei, so dass ich nicht zu weit zu laufen habe. Nachdem Erik gut auf die Runde geschickt ist, geht es weiter mit Einschmieren, Rucksack kontrollieren, Tapen, nochmal Rucksack kontrollieren, Streckenplan studieren, nochmal Rucksack kontrollieren ...

Ein lauter Knall - dann sind die E101er los!


Beim Frühstück um 6 Uhr habe ich nicht wirklich Hunger oder Appetit. Weiß auch nicht mehr, was ich da wirklich gegessen habe – man könnte mir da auch Gummi hinlegen, ich würde es nicht merken. Dafür nutze ich nochmal so gut wie jedes Klo auf der Strecke in Richtung Burglauenen. Die Bahn fährt uns mit mehr als 400 anderen „Verrückten“ bis fast direkt ins Startgelände. Dort nochmal ein letztes Mal Richtung Klo. Wie so oft stehen fast ausschließlich Frauen an, und wir kommen mit „Leidensgenossinnen“ ins Gespräch, die auch auf den letzten Drücker nochmal alles Überschüssige loswerden wollen. Schlangestehen vor dem Rennen verbindet   heute verbindet sie uns mit Natasja. Wir werden sie später  auf der Strecke nochmal sehen, und Andrea wird sie auch immer anfeuern. Vielleicht nicht Bündnisse fürs Leben, aber für einen Wettkampf!

Nach einer halben Stunde Schlange stehen schaffen wir es dann gerade noch pünktlich. Die Abgabe des Kleiderbeutels funktioniert problemlos, wir stellen uns an – und schon hören wir, dass es nur noch 2 Minuten sind. Die Aufregung steigt … und gleichzeitig wächst der Respekt vor der Strecke.


Banges Warten am Start: Werden wir alle Cutoffs schaffen?

10 … 9 … 8 … 7… 6 … 5 … 4 … 3 … 2 … 1 … und los geht’s. Kurz hinter dem Bahnübergang sehen wir nochmal Andrea. Sie macht schnell ein paar Bilder, so lange wir noch frisch und appetitlich aussehen.

Die ersten 2 Kilometer geht es auf einem breiten Weg entlang – immer ein Stückchen hoch, dann wieder relativ flach. Und entsprechend unruhig ist es im Pulk. Es wird gegangen, dann wieder für 50 Meter gelaufen. Eigentlich Quatsch. Jetzt nicht schon die Energie verpulvern!  Außerdem haben wir nach gut 2km einen Zwangsstopp. Da werden nämlich alle Läufer auf einen Singletrail zusammengeführt – und es kommt zum STAU. Für den folgenden Aufstieg zur Spätenalp ist es ein ständiges Stop and Go. Wir schieben uns im Pulk den Berg hoch. Individuelles Tempo ist nicht. Schlimmer wird es, als es ein kleines Stück auf einem Wurzelpfad abwärts geht … vor mir gibt es einige, die Probleme mit der Trittsicherheit haben. Da will man gar nicht hinschauen!

Aufstieg im Pulk: Kurz nach Burglauenen


Ansonsten ist der erste Anstieg zwar steil, aber gut machbar. Oder habe ich etwa alles schon verdrängt, weil es ganz am Anfang war? Nein, es ist ein netter Wurzelpfad, meistens durch den Wald, hier und da eine gesicherte Stelle, wo Bachrinnen die steile Bergwand herunterstürzen und der Blick in das über 500 Meter tiefer liegende Tal der Schwarzen Lütschine fast senkrecht nach unten geht. Außerdem hat man auf diesem Wegstück schöne Ausblicke auf die Schynige Platte, die immer noch über 300 Meter höher ist als unser Standort. Oh je, dort werden irgendwann in den nächsten Stunden Erik und die anderen E101 Läufer steil ins Tal müssen – und dann auf dem Weg, auf dem wir uns gerade nach oben kämpfen, wieder hoch. Das allerdings mit noch mehr Kilometern in den Beinen …

Letzte Meter im Aufstieg zur Spätenalp - dahinter die Schynige Platte


Als einmal mein Blick auf die Pulsuhr fällt, haben wir 250 Höhenmeter geschafft. Ein Zehntel  des Ganzen. Bei Wettkämpfen und im Training gebe ich zur Motivation ja immer regelmäßig die Höhenmeter an Katrin und Andrea durch – aber ich bin mir nicht sicher, ob das Katrin nun eher motiviert oder deprimiert. Ein Zehntel ist noch so wenig! Und dennoch geht es hier mit den Höhenmetern recht schnell. Nach etwa 600 Höhenmetern kommen wir aus dem Wald auf eine Wiese – es geht nochmal einen steilen Stich hoch, und oben erwarten uns schon Zuschauer bzw. Streckenposten und feuern uns an – der erste Aufstieg ist zu Ende, ab jetzt geht’s leicht wellig und dann abwärts nach Wengen. Katrin und ich schieben uns gleich mal einen Müsli-Riegel rein, damit der Akku überhaupt erst nicht leer werden kann.

Jetzt gibt es keine Staus mehr, der Weg wird breiter. Wir können locker nach Wengen runterlaufen. Als der Weg nach Süden abknickt, haben wir plötzlich das grandiose Bergpanorama des Lauterbrunner Tals vor uns. Wahnsinn! Irgendwo nach Südwesten müsste man eigentlich das Gspaltenhorn, Wyssi Fru, Wildi Fru und das Bluemlisalphorn sehen, an denen wir bei unserer Wanderung letzten Herbst vorbeigekommen waren. Aber für die Identifizierung von Berggipfeln fehlt mir jetzt die Zeit – so mache ich einfach nur ein paar Bilder und dann geht’s hinunter ins autofreie Wengen, wohin es Andrea hoffentlich schon per Bahn und mit mehreren Umstiegen geschafft hat.

Das Lauterbrunner Tal liegt vor uns!


Sie hat es geschafft – und als ich sie sehe, lege ich einen kleinen Sprint hin – ohne dass mir das bewusst wird. Aber Katrin pfeift mich sofort zurück. Recht so! Energie konservieren, sie wird noch gebraucht!

Unsere erste Verpflegungsstation. Es gibt neben Wasser diverse süß-klebrige Sponser-Getränke und andere abgepackte Sponser Produkte. Das einzige, was ich hiervon ertrage sind die Oat Packs – „mundfertig“ in Hälften geschnitten. Nachteil der Oatpacks: Sie sind zwar nicht pappsüß, aber staubtrocken. Daher brauche ich jede Menge Wasser, um sie runterzuspülen. Schnell fülle ich auch meine Soft Flask wieder mit Wasser  und trinke noch etwas Sponser Competition 1:1 mit Wasser verdünnt, damit es nicht mehr so süß ist. Dann ist es Zeit, wieder auf die Piste zu gehen …

Alle Hände voll zu tun am Verpflegungsstand

In einer Schleife geht es wieder zurück – wir hatten auf dem Hinweg schon die Läufer gesehen, die als nächstes den Gemsenweg in Angriff nahmen. Nun sind auch wir dran. Als wir unter den Seilen der Männlichen-Bergbahn hindurchlaufen, schwingt die große Gondel mit einem Klingeln aus der Talstation. Beim Klingeln sage ich instinktiv „Telefon“ … und dann „OH SHIT“ – denn meine Blicke verfolgen die Kabel der Bergbahn. Und die scheinen in den Himmel zu führen. Vor uns der Männlichen. GANZ  hoch. Und da ich weiß, dass wir für diese Höhe nur gut 4km Wegstrecke haben, kann das nur bedeuten: Es wird SEHR steil.

Da müssen wir hoch: Männlichen Westflanke

Nach der Schleife durch Wengen biegt der „Gemsenweg“ Richtung Männlichen ab. Auf dem Wanderschild steht: „Männlichen 3 Std“. Ich bekomme einen Schreck. Bei der Spätenalp lagen wir auf meinem Pace-Chart noch im mittleren Bereich (auch bedingt durch die Staus am Anfang), aber hatten uns auf dem Weg nach Wengen leicht verschlechtert. Jetzt noch 3 Stunden? O.k., das ist für Wanderer gerechnet. Aber es ist mir auch klar, dass wir auf dem Weg zum Männlichen keinen einzigen Schritt rennen würden.

Wenn ich sonst eher eine kühl kalkulierende und immer rechnende Pacerin bin – an dieser Stelle verlässt mich die Coolness. Würden wir am Ende doch Probleme mit dem Cutoff am Männlichen bekommen? Ich ziehe das Tempo an – so stark, dass Katrin einfach nicht mehr mitmacht. Mir ist nicht klar: Geht es ihr nicht gut oder bin ich zu schnell? Ich nutze den Vorsprung für das eine oder andere Foto. Ansonsten wirkt sie nicht so, als ob sie am Ende ist. Also bin ich wohl einfach zu schnell – das Wanderschild hat mir Feuer unter dem Hintern gemacht. Ich überhole einige Läufer, darunter auch unsere Bekannte von der Toilette in Burglauenen.

Anfangs verläuft der Weg noch durch den Wald und ist zwar steil, aber nicht übermäßig. Sobald der Weg den Wald verlässt, scheint er zur Himmelsleiter zu werden. Aber: obwohl wir nicht schnell sind, gewinnen wir schnell an Höhe. Ich überschlage kurz im Kopf (es ist noch genügend Blut im Hirn): Etwa 100 Höhenmeter in 11 Minuten. Wenn wir das durchhalten könnten, dann bekommen wir tatsächlich kein Problem mit dem Cutoff.

Hinter uns hören wir immer wieder Niederländisch. Wahnsinn, wie viele Läufer aus diesem doch so flachen Land beim Eiger Ultra dabei sind. Vor allem am Männlichen frage ich mich: Wie trainieren die das? Liebe Läufer aus den Niederlanden: Sollte jemand von Euch diesen Blogpost lesen – es würde mich wirklich mal interessieren, wie Ihr es schafft, Euch auf einen so steilen Lauf vorzubereiten. Das ist ja schon für uns schwer, und wir haben zumindest das deutsche Mittelgebirge und die Alpen in Fahrdistanz. Ich bin jedenfalls dankbar für den Aufstieg zum Laka und zum Golz und um jede harte Tour, die wir in unserer Vorbereitungswoche am Weißensee gemacht hatten.

Irgendwann schiebe ich mich um eine Kurve und sehe einen Streckenposten (?) in einer Hängematte. habe ich jetzt schon Halluzinationen? Nein, aus der Hängematte kommt das landesübliche „Hop, Hop, Hop“. Ist wohl nur eine originelle Art, abzuhängen. Platz für einen Stuhl wäre sowieso nicht gewesen.


Wollen wir nicht tauschen?


Mittlerweile kämpfen wir uns schon im Gipfelaufbau des Männlichen voran, zwischen jeder Menge von Erosions- und Lawinenschutzgittern. Unglaublich, was da teilweise an Geröllbrocken drin liegt – so etwas möchte man nicht abbekommen. Ich stelle mir vor, wie es hier wohl ist, wenn ein Gewitter heraufzieht – da stehen einem wahrscheinlich die Nackenhaare senkrecht.

Keine Panzersperren: Erosions- und Lawinenschutz am Männlichen


Aber dann: Wir sichten die Gipfelstation. Es ist zwar noch ein Stück, aber jetzt hat man das Zwischenziel vor Augen. Je näher wir dem Gipfelgrat kommen, desto mehr Zuschauer sind da und feuern uns an. Auch mit Kuhglocken! Das gibt nochmal ordentlich Schub. Und oben, am Zaun, stehen ganze Zuschauermassen – „Massen“ zumindest wenn man bedenkt, dass es sich hier um einen Traillauf handelt.

Gleich ist der Anstieg auf den Männlichen geschafft!

Ach so: Ja, wir haben den Cutoff am Männlichen geschafft. Und zwar mit 34 Minuten wirklich üppig. Und wir haben keine 3 Stunden für den Weg gebraucht, sondern 1:46. Überhaupt scheinen uns die Anstiege besser zu liegen als die Gefällstrecken … Wie war das mit „gleichmäßig laufen am Berg?

Zunächst ist aber mal leichtes Gefälle angesagt: Es geht vom Männlichen zur kleinen Scheidegg -wahrscheinlich der Weg am Eiger mit der höchsten Touristendichte, denn er ist fast flach und leicht zu begehen – und bietet eine tolle Aussicht auf die Eiger Nordwand. Und so sind es nicht die Wanderer oder Tourengeher, sondern die Seilbahntouristen, die diesen Weg mit uns teilen. Und es gibt alles: Von Gruppen, die uns überhaupt nicht beachten und an denen wir uns vorbeischlängeln müssen, über Menschen, die uns anfeuern, bis zu zwei Japanern, die sich dabei auch noch verneigen.

Plötzlich schnelle Schritte von hinten, man hört Anfeuerungsrufe – ich drehe mich um: Hinter uns ist – jetzt schon! – der Führende des E101, Stephan Hugenschmidt. Kein Wunder – er sollte dann ja den Kursrekord deutlich unterbieten. Wir machen schnell Platz, lassen ihn vorbei und rufen ihm ein paar anfeuernde Worte nach. Ich schaue mich jetzt immer wieder um in der Erwartung, dass bald der Zweite kommen muss. Das passiert aber eine ganze Weile nicht. Als er dann doch kommt – Jordi Gamito-Baus -, bin ich so verdutzt, dass ich ihm versehentlich in den Weg springe und er mir ausweichen muss. Sorry, Jordi!

Endlich mal flach: Weg zwischen Männlichen und Kleine Scheidegg

Wir näheren uns nun der Kleinen Scheidegg – der Weg der E101er zweigt von unserem ab, da beim E101 noch eine Schleife zur Lauberhornschulter und Wengernalp auf dem Programm steht. Mit zunehmender Nähe zur Kleinen Scheidegg habe ich den Eindruck, ich würde nach Chinatown kommen. Denn plötzlich sind es die Touristen aus Fernost, die die bedeutenste Landsmannschaft stellen. Da werden mit großen Objektiven kleine Bergblümchen fotografiert, mit dem Selfie-Stick die komplette Delegation vor der Eiger-Nordwand abgelichtet, auch diese seltsam riechenden Läufer kommen aufs Bild. Das Beste ist aber ein chinesischer Tourist, den ich schon von weitem sehe, weil er auf einem Stativ eine Art Würfel vor sich herträgt. Ich denke zuerst an eine Art GoPro … aber als wir näher kommen, stellt sich der Würfel als Lautsprecher heraus, über den er chinesische Musik in ohrenbetäubender Lautstärke abspielt – aber eine Musik von der ganz schlimmen Sorte. Ich weiß, Geschmäcker sind verschieden, aber es war ein solches Gejammere und Gejaule! Wie gut, dass kein Weidevieh in der Nähe ist, dem würde die Milch im Euter sauer werden …

Immer im Gleichschritt: Ankunft an der Kleinen Scheidegg

Kleine Scheidegg! Von weitem sehen wir Andrea, die uns wieder etliche Male ablichtet, bevor sie uns in die Verpflegungsstation begleitet. Darf sie ja, sie hat ein offizielles Betreuerticket. Eine nette Frau hilft mir beim Befüllen meiner Trinkblase. Das Stück zur nächsten Verpflegungsstation wird sich ziehen – denn die ist erst in Alpiglen. Einige Frauen mit Kopftuch machen Fotos von uns, den Frauen ohne Kopftuch und mit kurzen Hosen. Dann geht es weiter – Andrea muss zur Jungfraujochbahn sprinten, wir in Richtung Eigermoräne.

Auf dem welligen Pfad zwischen Kleiner Scheidegg und Eigermoräne erinnere ich Katrin daran, dass wir „nur noch“ zwei Aufstiege vor uns haben – den über die Eigermoräne und den zum Marmorbruch. Ersterer hat gut 350 Höhenmeter, in unseren Trainingseinheiten gemessen also etwas mehr als eine „Heiligenberg-Einheit“. Das sollte doch locker zu schaffen sein.

Die berüchtigte Eigermoräne

Naja, mit „locker“ hat das nicht mehr viel zu tun. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man eine Höhendifferenz mit durchschnittlich 15% Steigung (auf unserer heimatlichen Heiligenbergdirettissima) oder mit 23% Steigung (Eigermoräne) zurücklegt. Wir kämpfen uns langsam hoch, ich bekomme dabei immer wieder Krämpfe in der Fußmuskulatur. Wow! Da muss man sich richtig in den Berg reinkrallen.

Inzwischen nimmt die Bewölkung zu – das ist ganz gut, denn ich möchte dieses Stück wirklich nicht in brütender Hitze laufen – aber es wird dadurch auch recht kühl, denn vom Eigergletscher weht immer wieder ein kühles Lüftchen. Ich schaue mich um nach Katrin – da sehe ich, dass von hinten wieder Stephan Hugenschmidt an uns heranfliegt. Der musst uns wegen der zusätzlichen Schleife über die Lauberhornschulter jetzt nochmal überholen. Für uns eine willkommene Gelegenheit, mal stehen zu bleiben und die Luft zum Anfeuern zu nutzen. Was wir jetzt sehen: Einen solchen Anstieg nimmt auch Stephan Hugenschmidt im Gehen – nur hat sein Gehen nichts mit dem Kriechen zu tun, das wir Rennschnecken auf der Eigermoräne an den Tag legen.

Er hat selbst bei dieser Steigung noch ein Lächeln auf dem Gesicht: 
Stephan Hugenschmidt


Immerhin können wir jetzt die Station Gletscherblick schon sehen – hier ist der Höhepunkt der Strecke erreicht, und ab dort fehlen uns nur noch 250 (positive) Höhenmeter.   Andrea hat das Teleobjektiv gezückt und hat genügend Zeit, uns mehrfach auf der Moräne abzulichten. Dann führt sie uns über die Gleise der Jungfraubahn und zeigt uns den Weiterweg. Ist ganz gut, denn das Hirn ist nach der Eigermoräne blutleer. Alles Blut ist in der Wade. Andrea wird sich jetzt beeilen müssen, dass sie uns in Alpiglen nochmal treffen kann.

Wir zwei kleine Läuferinnen auf der großen Eigermoräne ...

Ich beiße nochmal in den Oatpack, den ich mir auf der letzten Verpflegungsstation mitgenommen habe. So richtig Hunger habe ich nicht, aber ein bisschen was muss rein. Ich freue mich jetzt schon auf das Cola, das es in Alpiglen laut Verpflegungsplan geben soll.

Jetzt geht’s den Nordwandtrail entlang. Zuerst mal unter dem nach Norden überhängenden Rotstock durch, einem Vorgipfel des Eigers, auf den jetzt auch ein Klettersteig führt. Hier gibt es auch die „Wall of Fame“, wo berühmte Bergsteiger mit ihrem Handabdruck verewigt sind. Ich mache schnell ein Foto der Abdrücke von Dani Arnold und von Ueli Steck – Katrin fragt: Sind die alle schon tot? Naja, Ueli Steck schon, aber Dani Arnold ist quicklebendig.

Wall of Fame: Handabdruck von Ueli Steck


Ich fühle mich inzwischen nicht mehr so quicklebendig. Mit dem Einstieg in den Nordwandtrail habe ich einen Durchhänger. Zwar sind die großen Aufstiege geschafft und der Cutoff ist für uns kein Thema mehr (falls sich niemand verletzt), aber noch immer liegen 14 km vor uns und vor allem: Die ganzen aufgesammelten Höhenmeter müssen vernichtet werden. Und ich bin nun mal keine gute Bergab-Läuferin. Der Trail selbst ist recht gut zu laufen, vor allem am Anfang ist er sehr gut ausgebaut und in diesem Jahr (im Gegensatz zum letzten Jahr) schneefrei. Doch es gibt zwei kurze, aber bissige Gegenanstiege, die ich so nicht auf dem Profil gesehen hatte ... und solche unerwarteten Dinge sind für die Moral nicht besonders gut. Dazu kommt: Der Trail zieht und zieht sich. So hoch die Eiger Nordwand auch ist – sie ist vor allem breit. Und wir müssen mehr als die Hälfte der Wand passieren, bis es dann nach links steil hinunter Richtung Alpiglen geht. 

In der Nähe des Einstiegs in die klassische Heckmair Route ist ein Schild angebracht, auf dem die Route der Erstbesteigung abgebildet ist. Um unseren Kopf mal wieder von den müden Beinen abzulenken, schalte ich in den Modus „Katastrophen-Sabine“ (Desasters don’t just happen). Ich zeigte Katrin, wo Toni Kurz 1936 im Seil hing und gestorben ist und wir philosophierten darüber, wie lange er in der Wand hängen gelassen wurde ... Dagegen sind unsere schmerzenden Fußsohlen doch Pipifax!

Wir im Katastrophen-Modus: Und wo ist jetzt Toni Kurz verunglückt?


Der Weg Richtung Alpiglen hat dann doch wieder größere Stufen – er erinnert mich ein bisschen an den Abstieg zur Eng beim Karwendelmarsch. Und über diese Stufen müssen auch die Läufer des E101 – das heißt irgendwann auch Erik, von dem wir bisher nur wissen, dass er den Lauf zu schnell angegangen war und jetzt langsamer geworden ist. Im oberen Teil überholt uns eine Läuferin des E35, der das Wasser ausgegangen war – ja, der Weg von der kleinen Scheidegg nach Alpiglen hat sich schon gezogen! Darauf sind nicht alle vorbereitet ...

Da sahen wir schon mal besser aus: Kurz vor Alpiglen

Dann endlich: Alpiglen! Das heißt: Cola!! Auf diese braune Brause, die ich sonst das ganze Jahr lang nicht trinke, habe ich mich schon seit der kleinen Scheidegg gefreut. Noch ein Stück Banane – das Tablett mit den Schokoladenstückchen bleibt leider für uns abgedeckt, das ist für die Läufer des E101 reserviert. Schade!

Während Katrin sich frisch macht, flüstert mir Andrea die Details über Erik zu – da sieht es ganz bitter aus! Magenkrämpfe, Stürze und die Überlegung aufzugeben. SHIT! Hoffentlich gönnt  er sich mal eine Pause, um sich nochmal zu sammeln und dann vielleicht doch noch durchzukommen? Katrin gegenüber bleibt Andrea eher allgemein. „Erik geht es nicht so gut“. Glücklicherweise will Katrin nicht so viel Details wissen.

Leider hat sie inzwischen mit sich selbst zu tun – es kündigt sich wieder einmal eine Migräne an. Daher rennen wir den ersten Teil ab Alpiglen auch nicht – das tut ihrem Kopf besser, und für mich ist  es auch ganz gut, weil die viele Kohlensäure vom Cola auf diese Weise geregelt abgelassen werden kann. Der Weg ab Alpiglen ist unschwierig – zunächst eine asphaltierte Straße, später immer mal wieder steile Pfade mit feinem Schotter – hier könnte man sicher tempomäßig mehr rausholen, aber mir ist es wichtiger, dass der Lauf nicht in einer Migräne-Katastrophe endet. Fünf Minuten mehr oder weniger zählen da nicht. Und außerdem sind die Läufer um uns herum in vergleichbarem Tempo unterwegs. Die einzigen, die schneller sind, sind die Spitzenläufer des E101, die im lockeren Abstand vorbeikommen. So sehen wir in diesem Streckenabschnitt auch Dani Jung, der mir vor allem durch seine gekrümmten Stöcke auffällt.

Der Weg ins Tal will nicht enden. Auf meinem Höhenmesser sehe ich zwar, dass sich die Höhe schnell abbaut, aber von Alpiglen aus sind es immerhin 800 Höhenmeter, bis es zum letzten Stück Richtung Marmorbruch geht. Für Katrin ist das eine bekannte Strecke – sie war dieses Stück bei ihrem Eigerwochenende gelaufen und konnte mir so auch immer ansagen, was als nächstes kommt.

Endlich! Die vorläufige Talsohle ist erreicht. Ich sage Katrin jetzt spätestens nach jedem Kilometer die noch verbleibende Strecke an, manchmal noch häufiger. Jetzt geht es um Motivation! Es sind noch etwas mehr als 5km – das heißt noch gut 2 km bis zum Marmorbruch. Drei Streckenposten muntern uns auf: Es gehe zwar jetzt hoch, aber steil nur bis zum Wald, danach würde es abflachen und wäre ganz angenehm. Naja, angenehm ist jetzt nichts mehr. Die steile Strecke hatte ich von oben schon gesehen - grausam. Doch seltsamerweise klappt der Aufstieg besser als gedacht. Ich merke, dass Katrin wieder anzieht, als wir den Wald und damit einen schönen Wurzelpfad erreichen. Geht zwar weiter aufwärts, aber nicht mehr so monoton. Eine Läuferin, die sich zwischen uns gedrängt hat, kann ich an einer etwas breiteren Stelle überspurten und klemme mich wieder hinter Katrin. Aha, da geht doch noch was. Katrins Kopfweh ist auch wieder besser geworden – entweder ein Erfolg des Colas oder Folge davon, dass es nicht nur höhenmäßig sondern auch mit dem Blutdruck wieder aufwärts geht. Egal. Auch wenn sich der Weg zum Marmorbruch zieht – immer wieder glauben wir das Wasser in der Gletscherschlucht zu hören – irgendwann stehen wir auf der Brücke, die die Gletscherschlucht überquert. Beeindruckend! Schnell ein Foto ... Und kurz danach sind wir an unserer letzten Verpflegungsstation.

An der Gletscherschlucht

Und hier gibt es Chips! Endlich mal was Salziges. Dazu noch 2 Becher Cola. Während ich die in mich reinschütte, trifft plötzlich Timmy Olson ein. Für die, denen dieser Name nichts sagt: Er ist der derzeitige Streckenrekordhalter beim Western States 100. Natürlich rennt er den E101. Und er muss daher auch noch eine größere Schleife laufen als wir – es geht für ihn nicht nach Grindelwald, sondern zuerst  über Pfingstegg. Er will wissen, wie weit das noch ist. Noch sieben Kilometer, sagt der Streckenposten. Ich rufe schnell „Way to go, Timmy“ – weg ist er ... und ich bin voll geflasht.

Es ist schwer, Katrin vom Chipsteller wegzubekommen, aber ich schaffe es schließlich doch. Vielleicht hätte ich ihr sagen sollen, dass wir ganz viele Chipstüten für den Abend gekauft haben? Wir laufen auf einem schönen Trail abwärts. Eine Frau an der Strecke sagt uns „noch 2 ½ km“. Na also - das sollten wir doch schaffen. Auf der Straße will Katrin wieder gehen, aber etwa 200 Meter weiter vorn stehen Kinder und jubeln uns zu. Wir laufen! Schließlich wollen wir diesen Kindern, die den ganzen Tag klatschen, auch was bieten. Schnell HIGH FIVE mit den Kindern, und dann dürfen wir kurz danach tatsächlich wieder in den Geh-Modus umschalten.

Die letzte Steile Rampe ins Ortszentrum von Grindelwald

Eine kleine Grausamkeit – das wissen wir schon – kommt am Ende. Da geht es nochmal rund 70 Höhenmeter hoch vom Tal der Lütschine in den Ortskern und damit aufs Zielgelände. Der Weg im Tal führt durch den Zeltplatz – hier scheinen viele Läufer zu campen und feuern uns an. Dann kommen uns die ersten Läufer mit blauen Startnummern entgegen: das sind die Läufer des E51, die ebenfalls nach oben zum Ziel müssen, aber aus Richtung Burglauenen kommen. Das heißt: der Anstieg ist nicht mehr weit. Und richtig: An der nächsten Kreuzung geht es nach rechts und ganz steil den Berg hoch. Aber jetzt ist das alles egal. Im Nachhinein sehe ich, dass wir von allen Steigungen des Laufs an dieser letzten am schnellsten waren. Wir riechen den Stall – oder das Ziel. Oder besser: wir hören das Ziel, denn der Sprecher ist schon von weitem zu hören.

Jetzt nicht mehr stürzen! Das wär' peinlich!

Noch ein kleines Stück auf der Hauptstraße entlang – wir werden von Läufern, die bereits auf dem Rückweg sind, und von Passanten bejubelt und landen mal wieder in dem einen oder anderen Fotoalbum aus Fernost. Und schließlich ist nur noch die Zielrampe vor uns – jetzt nicht stolpern auf der schwarzen Gummimatte, die auf dem steilen Gefälle ausgelegt ist! Und dann sind wir im Ziel.



YEAH! 35km, 2500 HM, 8:41:18 - GESCHAFFT!!


Unsere Zeit: 8:41:18. Wir werden damit 21. Und 22. in unserer Altersklasse. Wir sind total happy! Wir haben es geschafft – und für mich ist es zwar bei weitem nicht die längste Strecke, die ich gelaufen bin, aber die Strecke mit den meisten Höhenmetern und vor allem: so steil war es noch nie bei einem Lauf.

Zusammengefasst: Wir sind Heldinnen!!

Meine Heldinnenmedaille geht an Andrea: 
Für ihre tolle Unterstützung auf dem Trail!

Deshalb essen wir fast den ganzen Zielverpflegungstisch leer: Wassermelonen, Chips, Cola – den ganzen Tag habe ich mich von Süßgetränken, einem halben Clif-Bar, zwei Oatpacks und ein paar Bananenstücken ernährt – jetzt wird aufgefüllt.

Nachdem durch eine ausgiebige Dusche der Heldinnenschweiß entfernt ist und Andrea meine Beine wieder weichgeknetet hat, gehen wir nochmal zurück und empfangen Erik im Ziel – und der schafft das Unglaubliche: Nach seinem Tief auf der ersten Streckenhälfte lief es im letzten Drittel richtig gut, und er wird bei seinem ersten 100 km Traillauf auf Anhieb Dritter in seiner Altersklasse.

Erik wird auf Anhieb Dritter in der Altersklasse Herren Seniors II

Damit wissen wir auch, was wir am Sonntag vorhaben: Wir gehen zur Siegerehrung. Dort kommt nicht nur Erik aufs Treppchen, wir treffen auch die Läuferinnen vom LT Herbrechtingen wieder. Denn: die Dame, die den E101 gelaufen ist, hat die Altersklasse Frauen Seniors III gewonnen – und steht damit ganz oben.  Bescheiden berichtet sie uns, dass sie in dieser Altersklasse als einzige gestartet ist – eine zweite Läuferin war zwar gemeldet, ist aber dann doch nicht angetreten. Aber das ist egal: In dieser Altersklasse den E101 zu schaffen und Cutoff so souverän zu unterbieten, das verdient eine Siegerehrung!


Was ist unser Fazit vom Eiger Ultra? 
  1.  Nein, Obelix: Die Schweiz ist nicht flach! Schon gar nicht auf dem Eiger Ultra Trail.
  2. Der E35 ist nichts für Läufer, die die Einsamkeit lieben. Eher die Mischung aus großartigem Bergpanorama und Peking Marathon. Mit der Garantie, während des Laufs mindestens 500 mal abgelichtet zu werden.
  3. Der E35 ist super für Begleiter – so sie es sich finanziell leisten können (Begleiterticket kostet 99 SFR). Wenn der Läufer, die man begleitet, nur langsam genug ist, kommt man dank Zahnradbahn und Gondel zu fast jeder Verpflegungsstation.
  4.  Die Organisatoren scheinen der Meinung zu sein, die Schweiz müsse sich kulinarisch verstecken. Anders kann ich es nicht interpretieren, dass beim E35 an keiner Stelle leckerer Käse, Brot oder Bündnerfleisch auf dem Tisch steht – sondern nur künstliche Produkte. Das ist für mich DER große Minuspunkt beim E35. Wie sagt doch der Angelsachse: „An ultramarathon is an eating and drinking contest with a little exercise and scenery thrown in”. 
  5. Katrin und ich haben einen Plan: Man muss nicht schnell sein, um aufs Treppchen zu kommen. Man muss langlebig sein. Irgendwann werden all die Läuferinnen um uns herum aufgegeben haben – und DANN kommen WIR! Und dann stehen wir ganz oben!!
Unser neues Vorbild: 
Gerlinde Hochstein, Siegerin E101 Altersklasse Damen Seniors III


Und die weiteren Pläne? Wir arbeiten dran, wird aber noch nicht verraten. Jetzt aber geht’s zuerst mal zu einem Regenerationslauf – see you on the trails!

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